Welche Tugend muß die Grundlage aller anderen Tugenden bilden? Was ist denn die Grundlage des Ordenslebens? Es ist der Glaube. Aber worin besonders liegt die Frucht des Glaubens? Wenn wir das Leben der Heiligen lesen, so könnte man meinen, sie zeigen sich nach außen hin durch ihr großartiges Wirken wie auch in der Ausübung heroischer Tugendakte, wie z.B. in der Abtötung. Aber nein! Die Hl. Schrift sagt: „Alle Herrlichkeit der Tochter Sions ist inwendig.“ [vgl. Ps 45,14] Der Glaube muß innen Wurzel gefaßt haben; erst dann kann er Blüten treiben und Früchte tragen und sich nach außen hin zeigen. Der Glaube bildet immer das Fundament der christlichen Vollkommenheit; ohne Glauben besteht nicht eine einzige wahre Tugend. Der Glaube, der wahre lebendige Glaube, die Überzeugung, daß alles, was geschieht, Gottes Wille ist und daß ohne diesen Willen und Zulassung Gottes nichts geschieht, das ist der Grund, worauf die Heiligen gebaut haben.
Der Glaube lehrt uns etwas ganz anderes als der Geist der Welt. Die Welt sagt: Hasset eure Feinde! [vgl. Mt 5,44] Der Glaube sagt aber: Betet für eure Feinde. Die Welt sagt: Unterdrücket eure Widersacher, der Glaube sagt: Tut Gutes denen, die euch hassen! [vgl. Lk 6,27] Die Welt ist stolz, der Glaube lehrt: Ich bin demütig und sanftmütig von Herzen [vgl. Mt 11,29]. Die Welt hascht nach Vergnügungen und sinnlichen Lüsten, der Glaube aber lehrt uns: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet? [vgl. Mt 16,26] Sehen wir, der Glaube lehrt uns alles, was den Grundsätzen der Welt entgegen ist. Wenn wir den heiligen Glauben nicht hätten, so würden wir auch so urteilen wie die Weltleute. Der Glaube ist es aber, der uns alles in einem anderen Lichte, im wahren Lichte zeigt. Wir müssen alles, was immer nur vorkommen mag, im Lichte des Glaubens aufnehmen. Woher ist das große Leben aller Heiligen, woher ihre Taten, die wir bewundern und uns darüber freuen? Nur aus dem Glauben. Wenn der liebe Gott Leiden schickt, so ist es sein Wille; denn wenn wir den lebendigen Glauben haben, so wissen wir, daß der liebe Gott heute derselbe ist wie gestern, daß er ebenso gut, barmherzig, allwissend, vollkommen etc., etc. ist. Die Heiligen sind in ihren Leiden standhaft geblieben, weil sie dem Worte des Herrn eingedenk waren: „Wer mein Schüler sein will, der folge mir nach!“ [vgl. Mt 16,24] Deshalb haben sie stets das Beispiel Jesu vor ihren Augen gehabt – besonders in ihren Leiden – und haben gerne und freudig alles Widrige gelitten.
sel. P. Anton Maria Schwartz, Konferenz an die Mitbrüder vom 10.10.1896 „Über den Glauben“