Heute feiern wir das Fest vom guten Hirten. Und in dem heutigen Evangelium finden sich für uns zwei wichtige Punkte: Der liebe Jesus sprach zu seinen Jüngern: „Ich bin der gute Hirt, und ich gebe mein Leben für meine Schafe, darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben für sie hingebe, um es wieder zu mir zu nehmen“. Und der zweite Punkt ist: „Ich kenne die meinen und die meinen kennen mich.“
Der liebe Jesus hat als guter Hirte gewiß die größte Liebe gegen seine Schäflein bezeugt. Für sie hat er ja die Herrlichkeit des Himmels verlassen, hat Knechtsgestalt angenommen und ist zu uns auf die Erde herabgestiegen und Mensch geworden. Welche Liebe aber finden wir da bei ihm während seines ganzen Lebens bis zu seinem bitteren Tode! Was mußte der liebe Heiland alles leiden von der ersten Stunde seiner Geburt bis auf die letzte Stunde am Kreuze, sodaß man sagen könnte, er war während seines ganzes Lebens nicht eine Stunde frei von Leiden. Und am Kreuze selbst gab er bis auf den letzten Tropfen sein hl. Blut für seine von ihm erkauften Schäflein hin. Kann es da einen besseren, treueren Hirten geben als der, der sein Leben für seine Schafe hingibt!
Doch genügte dies der Liebe des guten Hirten nicht, er wußte daß er durch seinen Erlösungstod am Kreuze wohl alle Menschen vom ewigen Tode gerettet, aber daß die menschliche Schwachheit doch so groß sei, daß daher nur wenige Menschen gerettet würden. Daher sann er auf ein anderes Mittel, um fort und fort unser Mittler und Fürsprecher beim Vater zu sein. Er setzte das allerheiligste Sakrament des Altares ein, um als unblutiges Opfer fort und fort bei uns zu sein und den blutigen Tod am Kreuze immer zu erneuern, sodaß Jesus Christus im allerheiligsten Sakramente des Altares einen beständigen Tod stirbt. Welch’ große Liebe beweist nicht dieser gute Hirt gegen seine Schäflein!
Und da kommen wir gleich zum zweiten Punkt, daß auch die Liebe einer Seele zum göttlichen Hirten ganz und vollkommen sein muß. „Ich kenne die meinen“, sagt der Heiland, „und die meinen kennen mich.“ Gewiß, der Heiland erkennt seine Schäflein ganz genau. Er kennt auch Sie, meine lieben Schwestern, wie Sie jetzt da beisammen sind, eine jede einzelne und weiß, was Sie sich jetzt denken, welche Vorsätze und Entschlüsse in Ihren Herzen sich bilden, er weiß aber auch, ob Sie dieselben halten werden oder wieder, was so oft schon geschehen ist, nicht halten werden. Er weiß es, ob wir zu seinen guten Schäflein gehören oder zu jenen, die ihm nicht treu sind, sich oft von ihm entfernen. „Ja, er kennt mich“, so muß sich eine jede von uns sagen, „viel besser als ich selbst. Er kennt jeden meiner Gedanken, auch die geheimsten, er weiß alles, auch das Verborgenste, vor ihm kann ich mich nicht verbergen, er kennt meine Leidenschaften, unordentlichen Neigungen und böse Begierden.“
Aber welch’ ein trostvoller Gedanke ist es, auch zu wissen, der Heiland kennt mich, er weiß, wie groß meine Liebe zu ihm ist, welche Opfer ich bringe, er kennt meine Kämpfe um die Tugend. Das alles kennt der Heiland. „Ich kenne die Meinen“ – aber nur die erkennt der Heiland als die Seinen, die gerne bei ihm sind, seine Stimme hören. „Die Meinen kennen mich“ – gewiß, ein gutes Schäflein, das kennt seinen Hirten recht gut, seine Stimme, hört sie sogleich und ist gerne bei ihm. So auch im geistigen Sinn: ein gutes Schäflein, das kennt seinen Hirten, es ist gerne bei der Herde Christi, bei dem lieben Heiland und hört genau auf jedes seiner Worte, das er spricht durch seine Stellvertreter, bewahrt sie in seinem Herzen und sucht ihr ganzes Leben danach zu richten. Es ist immer um ihn, und hat es sich aus menschlicher Schwachheit entfernt und ist auf Irrwege geraten, so kehrt es doch bald wieder zurück.
Erforschen wir uns, sind wir gute Schäflein, die jedes seiner Worte im Herzen bewahren und auszuüben suchen? Wird uns der Heiland als eines seiner Schäflein erkennen? Oder müssen wir uns zu jenen zählen, die sich von den Hirten entfernen, oft weit entfernen, seine Stimme nicht erkennen?
„Die Meinen kennen mich“ – gewiß sie kennen den guten Hirten und laufen ihm überall nach und sind immer um ihn, soda[ß] sie gleich seine Stimme vernehmen, mag sie nun auf was immer für eine Weise zu ihnen sprechen. Ja, sie kennen jedes meiner Worte, haben sie tief in ihre Herzen eingeschlossen und handeln aber auch darnach; mag es auch noch so große Opfer kosten. Das gute Schäflein trennt sich nicht von seinem Hirten. Es weiß, was er alles gelitten hat und ist bereit, ihm nachzufolgen auf dem Kreuzwege. Er selbst hat ja gesagt: „Wer mein Schüler sein will, der nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Ja, im Leiden muß das Schäflein seine Treue gegen den Hirten beweisen, daß es ihm auch da nachfolgt, sonst ist es nicht wert, zu seiner Herde zu gehören.
Und sehen Sie, liebe Schwestern, wie oft hören wir es, daß wir uns selbst verleugnen, daß wir gerne Opfer bringen, Beschwerden auf uns nehmen sollen und doch, sobald eine Gelegenheit dazu da ist, benützen wir sie halt doch nicht, sondern geben immer wieder unseren Leidenschaften nach. Aber da gehören wir nicht zu den guten Schäflein. Halten wir doch jetzt ernstlich einmal die Vorsätze, die wir fassen, erzeigen wir uns als gute Schäflein und bleiben wir gerne beim guten Hirten, um seine Stimme gleich zu hören, dieselbe aber auch dann befolgen. Dann dürfen wir hoffen, einstens in den ewigen Schafstall im Himmel aufgenommen zu werden. Amen.
sel. P. Anton Maria Schwartz, Konferenz an die Barmherzigen Schwestern am zweiten Sonntag nach Ostern 1888